Kolumne
Wie haben wir unsere Kindheit überlebt?

An heutigen Massstäben gemessen durchlebten Kinder früher keine Kindheit, sondern einen Hochrisiko-Lebensabschnitt ohne Kita, Kindersitz und Babyhelm.

Martin A. Senn
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Martin A. Senn, Publizist.

Martin A. Senn, Publizist.

Seit Greta Thunberg eine Schüler-Klimastreikwelle ausgelöst hat, sind die meisten Politiker und Erwachsenen plötzlich immer schon grün und umweltbewusst gewesen. Aber Hand aufs Herz: Was haben Sie gemacht, als Sie 15 oder 16 Jahre alt waren? Ich für meinen Teil, das gebe ich zu, kümmerte mich damals jedenfalls weit weniger um das Schicksal unseres Planeten als um die Verbesserung der Höchstgeschwindigkeit meines Zweigang-Töfflis. Von CO2 hatte ich erst gerade im Biologieunterricht mal etwas gehört: dass es nämlich lebenswichtig sei für die Pflanzen – das pure Gegenteil von schädlich also.

Ohnehin ist es erstaunlich, dass meine Generation, die sogenannten Babyboomer, ihre Kindheit und Jugend in den 60er- und 70er-Jahren so zahlreich überlebt hat. Wenn man täglich hört und liest, was alles lebensgefährlich oder gesundheitsschädigend sein soll, müssten wir ja eher ausgestorben sein – und nicht demnächst als neue Rentnermasse die Altersvorsorge aus den Angeln heben.

An heutigen Massstäben gemessen durchlebten wir keine Kindheit, sondern einen Hochrisiko-Lebensabschnitt ohne Kita, Kindersitz und Babyhelm. Ohne Anwalt, der den Spielplatzbetreiber verklagte, weil wir uns bei den Balgereien um die begehrten Schäufelchen und Förmchen am betonharten Sandkastenrand blutige Schrammen holten. Weil wir, ganz ohne elterlichen oder anderen Beistand, auf dem «Gigampfi» oder dem Kirschbaum unsere ersten im Wortsinn «niederschmetternden» praktischen Erfahrungen mit der Gravitationskraft machten. Unsere Mobilitätsentwicklung vom Dreirad über die Rollschuhe bis hin zum Moped absolvierten wir selbstverständlich ohne Helm. Vom Skifahren oder vom Eishockey gar nicht zu reden. Und schon in den Kindergarten stapften wir, ganz ohne Mamas SUV und Kindersitz, allein zu Fuss.

Von Feinstaub, Stickoxid, Radon, Gluten, Glyphosat oder Plutonium hatten wir keinen blassen Schimmer. Ebenso wenig von VOC, dafür gingen wir umso lieber zum Schreiner, weil es dort so fein nach Leim und Lack duftete. Besonders gern halfen wir zu Hause mit, wenn es darum ging, im Garten ein Feuer zu machen, um alte Äste oder anderen Abfall zu verbrennen. In Sachen Abfall kannten wir uns schliesslich aus. Auf den vielen Deponien in der Umgebung, fast in jedem Waldstück gab es eine, verbrachten wir unzählige schulfreie Nachmittage, durchforsteten den Unrat und rauchten heimlich unsere ersten Zigaretten. Was wir dabei mit blossen Händen so alles an Dreck angefasst haben, mag man besser gar nicht wissen. Heute wäre längst ein Behördenheer zur Stelle, um das Ganze sofort zu unterbinden. Und die Eltern, die ihre Kinder einfach so auf eigene Faust herumstrolchen lassen, würden zu einem ernsten Gespräch bei der Kesb oder sonst einer ­Jugendbehörde vorgeladen.

Aber wir hatten weder Laptop noch Handy, wussten nichts von Facebook und Instagram. Es gab weder PET-Flaschen noch Raschelsäckchen; zum Einkaufen bekamen wir von zu Hause die immer gleiche ausgebeulte Tasche mit. Und geflogen sind wir so gut wie nie, weil’s viel zu teuer war. Für oder gegen was also sollten wir damals streiken?