Ein Dissens ist, für sich betrachtet, nicht schlecht. Wer sich um die richtige Strategie streitet, dem bedeutet sie noch etwas.
Vielleicht haben Sie das auch schon erlebt: Sie gehen gut vorbereitet in ein wichtiges Meeting und erwarten ein hartes Ringen um die beste Entscheidung z. B. im Hinblick auf die Anpassung der Strategie. Statt eines offenen Austauschs oder gar Streit wird eine Diskussion pro forma geführt, bei der letztlich das Ergebnis schon im Vorfeld festgestanden hat. Ihre Zweifel und Einwände werden ignoriert. So oder so ähnlich dürfte es sich immer noch in nicht wenigen (Gross-)Unternehmen und Institutionen zutragen, wie ich zahlreichen Gesprächen und Erfahrungsberichten entnehmen konnte.
Das hat mich überrascht. Lange Zeit habe ich gedacht, wir hätten genug oder gar zu viel Dissens und müssten uns eher in der Konsensfindung schulen. Dem scheint aber gar nicht so zu sein. Vielmehr sieht es danach aus, dass wir mehr Dissensmanagement in unseren Unternehmen und Institutionen bräuchten, d. h. einen souveräneren Umgang mit Dissens. Doch warum wird der offene Dissens gescheut? Vor allem zwei Gründe kommen mir dazu in den Sinn.
Erstens: Im Namen der Effizienz werden Zweifel und Einwände überhört; zusätzlich wird gerne noch zeitlicher Druck aufgebaut, der eine fundierte und offene Auseinandersetzung verunmöglicht. Dieses ignorante Vorgehen rächt sich allerdings oft zu einem späteren Zeitpunkt, wenn etwa bei der Implementierung der Strategie oder Massnahmen Probleme offenbar werden. Zweitens: Daneben gibt es einen falschen Respekt vor dem Dissens, als ob man die Büchse der Pandora öffnen würde, wenn man ihn zulässt. Doch das würde nur zutreffen, wenn man sich ihm passiv gegenüber verhält. Dann kann ein Dissens tatsächlich schnell aus dem Ruder laufen und für Verwerfungen sorgen. Eine reflektierte Haltung zum Dissens und seine aktive Gestaltung – sein Management eben – hingegen können dies verhindern.
Ein solches Dissensmanagement will gelernt sein. Grundlegende Argumentationsfähigkeiten gehören dazu ebenso wie die Kenntnis aktueller Herausforderungen z. B. im Kontext von Cancel Culture, Moralisierungstendenzen, aber auch Fake News. Wer um den Aufbau eines Arguments und um die wichtigsten Typen von Argumenten weiss, wird schneller erkennen können, wo manche Begründung fehlschlägt oder auf welcher Ebene überhaupt der Dissens stattfindet. Auch wird er manche argumentativen Tricks und Ablenkungsmanöver besser durchschauen können sowie moralisierende Wortmeldungen einordnen können.
Neben diesen Kompetenzen ist aber vor allem eine souveräne Haltung zum Dissens für dessen erfolgreiches Management nötig. Ein Dissens ist, für sich betrachtet, nämlich nicht schlecht. Auch ist er nicht zwingend Ausdruck fehlender Zusammengehörigkeit oder Loyalität – manchmal ist sogar das Gegenteil der Fall: Wer sich um die richtige Strategie streitet, dem bedeutet sie (noch) etwas.
Ich selbst habe meine Sichtweise auf Dissens angepasst, nicht zuletzt unter dem Eindruck eines Kurses zum Thema «Respekt trotz Dissens» der österreichischen Philosophin Marie-Luisa Frick. Interessanterweise haben mich ihre Impulse in gewisser Hinsicht sogar entspannt, insofern diese mich zu einem Reframing, zu einer Umdeutung veranlasst haben: Statt Dissens in erster Linie als einen gescheiterten Konsens zu verstehen und ihn damit negativ zu besetzen, kann ich den Dissens nun viel besser als eine normale Form des Miteinanders mündiger Personen akzeptieren. Ein solches Reframing kann ich allen, insbesondere aber den Führungskräften unter Ihnen empfehlen: Dissens ist meistens kein Ausdruck des Scheiterns und in der Regel keine Gefahr für den Teamgeist, vor allem nicht, wenn man weiss, wie man mit ihm umgehen kann. Lassen Sie Dissens zu, wo er besteht, und kultivieren Sie ihn durch aktives Dissensmanagement! Nicht streiten ist keine echte Lösung, besser streiten schon.
Magdalena Hoffmann ist Studienleiterin der CAS-Weiterbildung «Diskurskompetenzen für Führungskräfte» an der Universität Luzern.