Kommentar «Chefsache»
«Ich rege mich jeden Samstag auf über Sie»

Eine Zeitung berichtet, bringt Themen an die Öffentlichkeit. Und sie publiziert auch Meinungen in Kommentaren, Leitartikeln und Kolumnen. Das regt die Leserschaft an – und auch auf. Genau so muss es sein in unserer direkten Demokratie.

Jérôme Martinu, Chefredaktor
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Im direkten Austausch mit der Leserschaft: Jérôme Martinu, Chefredaktor der Luzerner Zeitung, hier im Gespräch an der Luga 2022.

Im direkten Austausch mit der Leserschaft: Jérôme Martinu, Chefredaktor der Luzerner Zeitung, hier im Gespräch an der Luga 2022.

Bild: Patrick Hürlimann (Luzern, 23. April 2022)

Für einmal geht es an dieser Stelle nicht um klassische Zeitungsaktualität. Thema sind die (aktuellen) Reaktionen, die wir Journalistinnen und Journalisten auf Kommentare, Leitartikel oder Kolumnen erhalten. So wird man auch an Orten damit konfrontiert, wo man das nicht unbedingt erwartet.

Zum Beispiel diese Woche an der Ausstellung über Luzerner Fasnachtskunst, wo sich eine Leserin zu erkennen gab, mit der ich einen Mailaustausch über das neue Luzerner Theater hatte. Sie sei überhaupt nicht einverstanden mit mir, das Projekt «überall» überzeuge sie völlig und sie werde sich dafür einsetzen. Woraufhin ich sie eingeladen hatte, diese Meinung doch als Leserbrief veröffentlichen zu lassen. Auch in der Direktbegegnung war natürlich das Theaterprojekt das Thema, unsere Meinungen lagen letzten Endes gar nicht mal so diametral auseinander. Ein gutes, wertvolles Gespräch.

Es gibt auch andere, etwas grenzwertige Begegnungen, wie diese hier einige Tage zuvor in einem Restaurant – auf der Toilette. Ein Leser, er möge mir die Transparenz verzeihen, schaut mich herausfordernd an. Ich grüsse ihn, gehe zum Händewaschen. Und dann:

«Grüezi Herr Martinu!»
«Kennen wir uns auch ausserhalb meiner Funktion?»
«Nein. Aber ich rege mich jeden Samstag auf über Sie!»
«Soso. Sie lesen meine Kommentare offenbar.»
«Ja, immer. Sie sind ein Ordo-Liberaler!»
«Ein Ordo-Liberaler? Ok, das ist interessant. Kein Problem, sie müssen mit meiner Meinung nicht einverstanden sein. Es ist doch gut, wenn die Zeitung an- und auch mal aufregen kann. Aber vor allem ist es wichtig, dass Meinungen diskutiert werden. Das ist eine zentrale Aufgabe der Medien.»
«Hm jaja, das stimmt schon. Ich rege mich auch nicht jedes Mal auf. Vielleicht 50:50.»

Wer austeilt, muss auch einstecken können. Keine Frage. Und solche Reaktionen aus der Leserschaft zeigen der Redaktion, dass wir mit dem Setzen von Themen etwas befördern, was für das direktdemokratische System unerlässlich ist: Die öffentliche Debatte.

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