In der Utzigen haben die Bewohner mit Hilfe der Tafelrunde ein familiäres Netzwerk geschaffen. Unterstützt werden sie von der Migros.
«Kaffeechränzli», gibt es die noch? Ja, es gibt sie noch. Aber unter neuem Namen und mit neuem Konzept: Der Trend aus Italien heisst Tavolata. Das bedeutet so viel wie «Tafelrunde». Die Tavolata ist auch im Kanton Uri heimisch geworden und wird sogar vom Migros-Kulturprozent gesponsert. Aber der Reihe nach.
Langsam füllen sich die Tische in der Utzigen, Altdorf. Rund ein Dutzend Nachbarn begrüssen sich herzlich. Das Wetter stimmt, der Blick auf die Weinreben ist ein Genuss.
Karin von Mentlen bietet allen Kaffee und Kuchen an. Zur Auswahl stehen ein Cheesecake, ein Aprikosen-Biskuit und ein Schokoladenkuchen. «Den Cheesecake musste ich vor den Nachbarskatzen verteidigen», meint Monika Stählin.
Alle kennen sich sehr gut. Man kommt ungezwungen miteinander ins Gespräch. Es werden Bilder von Nachbarskatzen ausgetauscht. Oder Ferienbilder von Nachbarn, die gerade auf Bali einen Vulkan besteigen. Ferruccio Bay spricht das «feudale» Kaffeeset an. «Das exquisite Geschirr ist von einem Nachbarn, der ausgezogen ist. Renzo musste die Wohnung der Eltern räumen, dann hatte er dieses Geschirr, er sagte nehmt es, sonst wird es entsorgt.» Weitere Gesprächsthemen sind ein vermeintlicher Einbrecher, der sich als die Gärtnerin entpuppte, die Storen im Quartier, die bei Föhn nicht bei allen automatisch hochgehen und die orangen Strassenlampen des Tennisplatzes, die vor allem dann stören, wenn die Storen automatisch hochgehen.
Die Stimmung beim «Kaffeechränzli» ist ausgelassen. Das Treffen in kleiner Runde ist jedoch nur ein Teil des Tafelrunde-Konzeptes: In der Sommerzeit treffen sich die Nachbarn einmal im Monat zum Tavolata-Grill, in den kälteren Jahreszeiten zur Tavolata-Runde mit gemeinsamem Essen. Die Gastgeberrolle geht reihum. Die Gäste werden zu einem Abendessen oder auch zu einem Sonntagsbrunch geladen.
Aber die Tavolata ist weit mehr als das. Man nimmt den Nachbarn Päckchen entgegen, hütet Katzen oder Kinder, tauscht Kuchen und Eier aus. «Und wenn es Probleme gibt, ist immer jemand da, mit dem man sprechen kann, selbst in der Nacht», sagt Irene Hauser.
Ziel des modernen Wohnkonzeptes ist ein generationenübergreifendes Miteinander, eine Art Nachbarschaftshilfe, die um die Tavolata herum entsteht. «Es ist fast wie eine Familie», sagt Hauser. Sogar eine Whatsapp-Gruppe hat sich die eingeschworene Gemeinde eingerichtet.
Die Daten zum Mitmachen werden rechtzeitig an allen Türen des neuen Quartieres Utzigen angeschlagen. Für Senioren ist die Tavolata ein Mittel gegen die Einsamkeit. «Kontakte sind im Leben fast das Wichtigste. Das bringt wahnsinnig viel Positives, Lustiges, Lehr- und Hilfreiches», sagt Hauser. Das ist auch der Grund, weshalb die Tavolata vom Migros-Kulturprozent gesponsert wird. Und wie kann die Migros diese Versammlungen unterstützen? Sponsert sie etwa den Kuchen? «Nein, aber es gibt ein Startkapital und eine Ansprechperson», sagt Hauser.
Eine tolle Sache seien auch die Jahresversammlungen, bei der alle Tavolata-Mitglieder teilnehmen dürfen. «Bei der letzten Jahresversammlung in Olten gab es zwei Fachvorträge und einen bunten Strauss von Angeboten: einen Literaturweg, eine Altstadtführung, Yoga, Einführung in Poetry-Slam und so weiter.» Zum grossen Erstaunen der zirka 300 Teilnehmer trugen zwei Seniorinnen ihren ersten Poetry-Slam vor und überzeugten mit ihrem Text derart, dass sie vom Migros Kulturprozent übernommen worden seien.
Es läuft also gut rund um die Tafelrunde. Allerdings, an einer Stelle drückt der Schuh: «Es gibt eine Hemmschwelle. Wir würden es gerne sehen, wenn mehr junge Familien mit ihren Kindern zu uns stossen würden», meint Stählin. Damit das Generationenübergreifende noch besser zum Tragen komme. Im Moment ist die Tavolata Utzigen noch die einzige im Kanton Uri. Hauser sagt deshalb mit Blick darauf, dass der Artikel auch andere inspirieren könnte: «Wenn neue Tavolatas entstehen im Kanton Uri, dürfen diese gerne bei uns vorbeischauen, wie wir das machen.»